Ins Zentrum Europas: mit der Fachschaft Deutsch nach Breslau
Darf man jetzt eigentlich wieder „Breslau“ sagen? Oder heißt die prächtige und vitale Metropole an der Oder nun eben ein für allemal Wrocław? Klar, sie liegt in Polen, bis 1945 war sie aber Teil Deutschlands, davor preußisch und noch früher österreichisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg – die Stadt lag in Ruinen - wurde die deutsche Einwohnerschaft vertrieben und durch Polen ersetzt; diese Menschen wiederum sind im Zuge der von Stalin durchgesetzten Westverschiebung des polnischen Staates aus dessen vormaligen Ostgebieten und insbesondere Lemberg (heute Ukraine) hierher umgesiedelt worden. Eine doppelte Vertreibung also und ein nahezu vollständiger Bevölkerungsaustausch. Was dabei oft übersehen wird: auch die Polen waren Opfer dieses Bebens im Nachklang des Krieges. Seit der Wende von 1989/90 bekennt sich die Stadt erinnernd wieder zu ihren Wurzeln, und wer keine revanchistischen Gelüste hegt, der kann den alten deutschen Namen problemlos in den Mund nehmen. Und vor allem: Im vergangenen Jahr trug Wrocław/Breslau stolz den Titel der „Kulturhauptstadt Europas“, der gerade der geschichtsträchtigen niederschlesischen Kapitale mit ihren etwas über 600 000 Einwohnern bestens stand, da sich diese immer schon zwischen den Kulturen bewegt hatte, was bis heute überall spürbar ist. Nicht zuletzt steht sie mit ihrem Selbstverständnis für all das, was Europa heute in seinem besten Sinn ausmacht: Offenheit, Toleranz und Frieden – schon der polnische Papst Johannes Paul II. hatte Breslau 1997 als eine „Stadt der Begegnung“ bezeichnet.
Somit lag es nahe, dass wir für unsere traditionelle Fortbildungs- und Literaturfahrt der Fachschaft Deutsch im vergangenen Schuljahr eben Breslau als Zielort auswählten. Etwa zehn Lehrerinnen und Lehrer, teils mit Anhang, machten sich am Freitag, den 30. September, gleich nach dem Unterricht auf den Weg nach Südwestpolen. Dort konnte die Gruppe wegen des diesmal auf einen Montag fallenden Feiertags bei überwiegend herrlichem Frühherbstwetter vier anregende, intensive Tage verbringen, wobei uns der junge einheimische Germanist Michael Zimny belesen und anschaulich durch Historie und polnische Gegenwart geleitete. Nach der ersten Erkundung Breslaus am Samstag stand am Tag darauf ein Ausflug in die ländliche Umgebung auf dem Programm. Nicht weit von Breslau befindet sich nämlich das Gut Kreisau, das der mutigen Widerstandsgruppe um Helmuth James und Freya von Moltke während des Zweiten Weltkriegs mehrfach als Treffpunkt diente. Dort entwickelten die Mitglieder des sog. „Kreisauer Kreises“ Vorstellungen und Ideen für die Zeit nach der NS-Diktatur, von denen vor allem der Kampf gegen den als verderblich eingestuften Nationalismus und die Vision eines europäischen Zusammenwachsens gerade gegenwärtig wieder sehr aktuell sind. Im nicht weit davon entfernt liegenden Örtchen Świdnica (deutsch Schweidnitz) steht die evangelische „Friedenskirche“ im Fachwerkstil, ein Weltkulturerbe, das auf die Glaubenskämpfe der Reformationszeit zurückgeht und ein Monument der allmählichen Annäherung der Konfessionen darstellt. Zu den Beschlüssen des Westfälischen Friedens von 1648 gehörte nämlich die Erlaubnis für die schlesischen Protestanten, drei derartige Kirchen zu errichten, allerdings musste eine ganze Reihe von Auflagen beachtet werden: Zum Beispiel durften diese Kirchen keine Türme oder Glocken haben. Aber immerhin – ein erster Schritt in Richtung religiöser Freiheit war getan. In Breslau selbst unternahm die Lehrergruppe mit Herrn Zimny ausgedehnte Spaziergänge durch die Gassen und über die Plätze der schönen Altstadt – der weitläufige Rynek mit dem alten Rathaus beeindruckt als Salon der Stadt und verzauberte uns immer wieder aufs Neue; dazu erlebten wir das Universitätsviertel mit der barocken Aula Leopoldina – acht spätere Nobelpreisträger haben an der hiesigen Bildungsstätte studiert - , die Dominsel, Breslaus ehrwürdige Keimzelle, und schließlich die Jahrhunderthalle von 1913, eine Ikone der frühen Moderne, die ein weiteres Wahrzeichen der Stadt darstellt. Immer wieder streute unser Reiseführer dabei an den einschlägigen Orten literarische Bezüge und Anekdoten in seine Ausführungen ein; so galt Breslau bereits zur Barockzeit im 17. Jahrhundert mit der „schlesischen Dichterschule" als Hauptstadt der deutschen Literatur, 1830 wurde hier August Hoffmann von Fallersleben, der spätere Autor des „Deutschlandliedes“, mit gerade einmal 32 Jahren zum Professor für Literatur berufen und der nachmalige Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der in der schlesischen Provinz geboren wurde, besuchte hier ab 1874 – er war eben 12 Jahre alt geworden - zusammen mit seinem Bruder die weiterführende Schule, fernab von seinem auf dem Land gelegenen Elternhaus. Allerdings stieß der junge Gerhart sich an den Zumutungen des wilhelminischen Drillsystems und klagte über die Bevorzugung seiner adeligen Mitschüler; freilich entstand in der Großstadt auch Hauptmanns Leidenschaft fürs Theater. Der spätere Dramatiker des Naturalismus, der seine Zeitgenossen mit radikalen sozialkritischen Stücken aufrütteln wollte, hat seine Wurzeln also in Breslau. Auch (die) Romantik hatte jedoch den ihr gebührenden Platz: In der St.-Vinzenz-Kirche ehelichte der von Schloss Lubowitz in Oberschlesien stammende berühmte Dichter Joseph von Eichendorff 1815 Luise von Larisch, sein „Liebchen“, dem er einmal in einem Poem leidenschaftlich zuruft: „Und alles lass ich, wenn ich dich so schaue – Ach, wen Gott lieb hat, gab er solche Fraue!“
Wir lernten aber auch Beispiele für die polnische Literatur kennen, die hier seit dem Zweiten Weltkrieg in der jetzt Wrocław genannten Stadt blühte und dies bis heute tut. Michael Zimny erzählte zum Beispiel vom früh verstorbenen Rafał Wojaczek, der – im kommunistischen Polen (!) - ganz im Geist von Rock ’n’ Roll und Hippietum den Stil der „jungen Wilden“ in der polnischen Dichtung der 1960er Jahre prägte, und vom großartigen Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Drehbuchautor Tadeusz Różewicz, der – 2014 im Alter von 92 Jahren gestorben - international bekannt ist – sozusagen ein Nobelpreisträger ohne Nobelpreis. Diesem hat sein Schriftstellerkollege Günter Grass einmal ein persönliches Gedicht gewidmet, beseelt vom Gedanken der deutsch-polnischen Freundschaft in einem vereinten Europa.
Michael Ernest, StD
Literatur vor Ort: Fachschaftsfahrt nach Tübingen und Marbach
An den Ufern des Neckars hat sich seit dem Mittelalter eine einzigartige Kulturlandschaft gebildet, die besonders im 19. und 20. Jahrhundert europäische Bedeutung gewann. Kaum eine Region hat für die intellektuelle Entwicklung Deutschlands eine vergleichbare Rolle gespielt, man denke nur an Hölderlin und Schiller, Waiblinger und Mörike, Kerner und Uhland.
Die Fachschaft Deutsch machte sich wie jedes Jahr im Herbst auf, literarische Spuren vor Ort zu erkunden. Diesmal ging es zunächst nach Tübingen. Die Liste der Geistesgrößen, die in Tübingen ihre Lebensspuren hinterließen, liest sich wie ein Who is Who der Literatur und Philosophie. Mit Blick auf den Neckar, zurückgezogen und geistig umnachtet, verbrachte Hölderlin 36 Jahre in seinem Tübinger Turmzimmer. Goethe logierte beim Verleger Cotta. Hegel beklagte den Stumpfsinn des Evangelischen Stifts. Wilhelm Hauff wohnte im Schatten des Schlosses. Hermann Hesse erlernte hier den Beruf des Buchhändlers. Bis heute zieht die Universitätsstadt, in der freiheitliches Denken Tradition hat, Intellektuelle und Schriftsteller an. Am Samstagabend konnte ein Teil der Gruppe eine fulminante Peer Gynt–Inszenierung im Stuttgarter Stadttheater erleben, während eine andere Gruppe im intimen Tübinger Zimmertheater Patrick Süskinds Kontrabass genoss.
Abschluss – und ein weiterer Höhepunkt der Literaturfahrt – bildete am Sonntag der Besuch des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Der beeindruckende Bau wurde von David Chipperfield Architects entworfen. In unterirdischen Räumen lagern über 1.400 Schriftsteller- und Gelehrtennachlässe mit rund 50 Millionen Blättern. Aus ihnen wurden 280 Exponate ausgewählt und zur neuen Ausstellung „Die Seele” zusammengestellt. So konnte die Fachschaft die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts von den Beständen des Deutschen Literaturarchivs aus entdecken. Alle Exponate sind Grenzgänger zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen den Dingen selbst und dem poetischen Raum, den sie eröffnen. Besonders beeindruckt waren wir von Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomat. Er dichtet auf Knopfdruck mögliche Orakel: „Es ist ein Spiel. Wie weit man es mit Sinn auflädt, hängt vom Betrachter ab. Es können Gedichte entstehen, die jemandem etwas sagen.”
Vom 20. Jh. kehrten wir ganz zum Schluss noch einmal ins 18./19. Jahrhundert zurück zum Schiller-Nationalmuseum, gleichsam der Keimzelle des Deutschen Literaturarchivs. Ihm und seinen verschiedenen „Archivkörpern” sind fünf Räume gewidmet. Vier weitere Räume stellen Schillers Werk in die Zeit seiner Entstehung und frühen Rezeption und zeigen, wie sich die Zeichen– und Ideensysteme der Literatur vom 18. ins 19. Jahrhundert verändern. Gefüllt mit literarischen Eindrücken machte sich die Fachschaft am Sonntagnachmittag wieder auf die Reise mit der Frage: Wo wird es wohl im nächsten Jahr hingehen?